Theaterfrau Alice Mortsch - Ein Interview

Künstler:innen im Gespräch
Das Gespräch mit Alice Mortsch führte Catia Corradini 

26.06.2025
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Catia Coradinei sprach mit Alice Mortsch über ihre Theaterarbeit

Liebe Alice, ich freue mich, dass du Zeit und Lust hast, uns einen Einblick in deine wirklich weite Arbeitswelt zu geben! Du wirst auch heuer wieder einen Theater-Workshop bei Styrian Summer Art leiten und zwar vom 15. bis 17. Juli "Theater DELÜX – Improvisation und Spiel" im Naturpark Pöllauer Tal.

SSA: Du bist ein Allround-Talent auf der Bühne, woran arbeitest du aktuell, bzw. welche Themen sind dir momentan wichtig in deiner Arbeit?

Alice Mortsch: "Vielen Dank für die Einladung zu dem Interview, ich freue mich sehr auch dieses Jahr wieder bei Styrian Summer Art dabei zu sein!  Ich habe mittlerweile mehrere Berufe, die allerdings alle mit dem Theater zu tun haben und ich erkenne, dass diese sich im Laufe meines Lebens immer weiterentwickeln, weil ich ein sehr neugieriges Wesen bin. Derzeit bin ich in einer sehr starken Entwicklungsphase da ich als Künstlerin immer mehr bei mir selbst ankomme und mich von den Meinungen der anderen über mich und meine Arbeit löse – das macht mich sehr frei. Aktuell richte ich gerade in Wien eine eigene Kreativwerkstatt ein, das ist mein erster eigener Open Kreativ-Space: eine Kombination aus Seminarraum und einer Kunsthandwerkstatt und damit erfülle ich mir einen langjährigen Traum. Mein Opa war Tischler und ich bin quasi in einer Tischlerei groß geworden und seit ich dort das Holz gerochen habe, wollte ich immer schon einen eigenen Raum/ eine Kreativwerkstatt und der ist jetzt da. Das soll ein Austauschort werden für alles, was eben gebraucht wird: je nachdem für ein Theaterstück, als Entspannungsort, ein Schaffensbüro, ein Proberaum, ein Raum für Fahrradreparatur, Bühnenbildkreationen, Pflanzenberatung und somit so etwas wie eine Kunst-Zentrale.
Weiters leite ich zurzeit viele Seminare und Einzelcoachings, auch im Führungskräftebereich, Teambuilding für Firmen und ich plane gerade die Kreativprojekte des kommenden Jahres. Zusammen mit zwei Kollegen von mir, Alexander Hofellner und Christian Tesak, habe ich ein Musikprojekt. Und nachdem ich auch in der Steiermark verwurzelt bin, bin ich gerade im Endspurt der Planung der Teichfestspiele von Sinabelkirchen, eines kleinen Theaterfestivals, dessen Leiterin ich bin und das heuer von 21.-31. August stattfinden wird.

SSA: Mich und wahrscheinlich viele interessiert: Wie kam es, dass "die Bretter, die die Welt bedeuten" zu deinem Arbeitsplatz wurden?

AM: Ich bin mit der Kunst groß geworden, ich habe als Kind Ballett getanzt und in Musicals mitgemacht - wir hatten das Musische Zentrum neben meiner Volksschule. Zum Theater kam ich in der Steiermark, mit zwölf. Ein Lehrer an meiner Schüle meinte, dass es vielleicht eine gute Idee für mich wäre. Als ich mit sechzehn begonnen habe über einen Beruf nachzudenken, da war das Theater da, weil es mich wichtig war, mich für Lebenszeit zu entscheiden und nicht für Sicherheit oder Geld, was ja nicht so im Vordergrund steht, wenn man die Kunst wählt. Ich wollte die durchschnittlichen 40 Arbeitsstunden pro Woche mit etwas ausgefüllt sehen, das mir viel Spaß macht und das war eben das Theater. Nach der Schauspiel-Ausbildung hat sich das noch verstärkt, weil ich gesehen habe, dass das Theater eine großartige Methode ist. Nicht nur um selbst auf der Bühne zu stehen, sondern weil die Auseinandersetzung mit Theater den Menschen sehr viel Kraft gibt. Man lernt sich selbst und seinen Körper gut kennen und wie ein Instrument einzusetzen, mit seiner Wirkung zu arbeiten, mit Authentizität. Weil mich diese Methode so begeistert hat, habe ich sofort nach meinem Studium begonnen, selbst Workshops und Seminare zu leiten, weil ich das in allen Bereichen, auch dem sozialen, weitergeben wollte. Da dieser Bereich so vielfältig ist, vom Theaterspielen abgesehen sind etwa Persönlichkeitswicklung oder das Bearbeiten aller möglichen Themen darin enthalten – da das so vielfältig ist und ich mich ungern langweile, bin ich dabeigeblieben, weil immer wieder etwas Neues passiert und jeder Mensch individuell neue Geschichten erzählt.

SSA: Du hast dich intensiv mit Gesang (klassisch und Jazz), Tanz (klassisch und modern) und Musik beschäftigt und ganz nebenbei auch noch ein Studium der Sonder-, Sozial- und Heilpädagogik in Wien absolviert. Das steht für mich als Kontrast, zu den zuvor genannten Bereichen, die viel geistige und körperliche Leistung erfordern, Perfektion und Disziplin verlangen. Oft sind beeinträchtigte Menschen da nicht mitgedacht.
Was hat dich zu diesem Schritt bewegt?

AM Ich habe sehr lange über diese Frage nachgedacht und bin erstaunt, dass du mir diese Frage gerade jetzt stellst, weil ich gerade jetzt, nach langer Zeit wieder einmal an einem Projekt arbeite, das diesen Bereich der Sozialpädagogik abdeckt. Ich stelle allerdings die Frage, ob das ein Kontrast ist – ich glaube nicht, weil für mich der Mensch der Mensch ist. Ich beziehe mich dabei auf ein Interview mit Christoph Schlingensief, der über viele Jahre in Berlin immer wieder mit Menschen mit Behinderung Theater gemacht hat: "Ein Mensch ist ein Mensch und wer kategorisiert jetzt wen, wie er zu sein hat?" Deshalb sind Menschen mit Beeinträchtigung in meinen Augen genauso selbstverständlich wie jeder andere Mensch fähig, in ihrem eigenen Tempo, wie auch jeder andere Mensch, Perfektion, Disziplin und Leistung zu bringen. Es stimmt, dass sie oft nicht mitgedacht sind im Theaterbereich, das ist mir immer wieder aufgefallen. An der Uni habe ich einmal ein Projekt gemacht, das sich das "Theater für Blinde" nannte, dabei ging es darum, wie Theater, aber auch bildende Kunst für blinde Menschen interessant sein kann. "Der Schwalbenkönig", ein Theaterstück von Franzobel, das ich inszeniert habe, haben wir in Gebärdensprache übersetzen lassen. Es ist sehr selten, dass Menschen, die nicht so gut sehen oder hören, nicht mitgedacht werden und das finde ich persönlich traurig. Warum nicht? Man kann einfach am Setting etwas verändern: Beispielsweise durften beim "Theater für Blinde" die Sehbehinderten in Begleitung einer/eines Sehenden das Bühnenbild ertasten, um ein anderes Erlebnis der Bühne zu ermöglichen.

Aktuell bringe ich mich in einem Projekt am Theater Sägewerk ein, das Stück "Lysistrata" von Aristophanes wird gegeben. Auf der Bühne, wo Menschen mit Beeinträchtigungen agieren, wird umfassende Bühnenarbeit geleistet, bis hin zum Bühnenbild. Spannend ist für mich die Authentizität, wo andere zu viel denken und ich erlebe diese Truppe als sehr diszipliniert und trainiert, im Sinne der Theaterabläufe. Man weiß, wie Theater funktioniert. Ich glaube, dass jeder Mensch, der das möchte, spannende Bühnensituationen herstellen kann, spannende Geschichten erzählen kann.

SSA: Arbeitest du an inklusiven Theaterprojekten oder planst du etwas Diesbezügliches?

AM: Es ist spannend, aber nach langer Zeit bin wieder in so einem inklusiven Projekt und stelle mir diese Frage selbst: Wo ist die Grenze zwischen sozialer Arbeit und Kunst? Angenommen ich mache einen Workshop mit 25 Kindern, dann brauche ich auch eine zweite Person und es findet immer eine individuelle Betreuung statt, die im Sinne der Gruppe stattfinden muss. Vor einigen Wochen bin ich bei einem Workshop mit einem 10jährigen Buben zusammengesessen und er hat mir erzählt, dass er "so schräge Gedanken" hätte und vielleicht würde er einmal Künstler werden. Woraufhin ich ihm erwidert habe, dass mir das gar nicht fremd ist und dass Künstler häufig so ticken, kindliches Denken mitsamt der übersprudelnden Fantasie und das Hinausdenken über den Tellerrand oder das "Alles ist möglich" weil wir uns unserer Fantasie bedienen, sind Dinge, die mir sehr vertraut sind. Auch wenn man mit Menschen im inklusiven Bereich arbeitet, ist das einfach eine Denk- und Herangehensweise, die mir sehr vertraut ist. Wenn etwa eine Person mit ihrem Körper kommuniziert, wenn jemand die ganze Zeit spricht, ohne zu stoppen, so wird man feststellen, dass es das alles auch in der Kunst gibt.
Ich finde es auch traurig, dass wir keine inklusive Gesellschaft sind. Ich habe eine Zeit lang in Gleisdorf gelebt, neben der Chance B (einer gemeinnützigen Interessensvertretung für Menschen mit Behinderung und deren Angehörige in der Oststeiermark) und meine Mama hat in Wien mit Menschen mit Behinderung gearbeitet, sodass es auch vorkam, dass wir in meiner Kindheit mit Rollstuhlfahrern zusammen Urlaub gemacht haben – Inklusion ist mir also vertraut.
Im Theater lebt man das so ein bisschen quotenmäßig. Ich war damals sehr enttäuscht darüber, dass die Aktion "Theater für sehbehinderte und blinde Personen" der Arbeitsgruppe für Sonder-und Heilpädagogik (Uni Wien/ Institut für Bildungswissenschaften) so wenig Anklang bei den Theatern gefunden hat. In der Josefstadt hat man die Tatsache, dass man einem Blinden während der Vorstellung Beschreibungen zuflüstern muss, als störend und zu laut bewertet und viele andere Theater in Wien haben das ebenso abgelehnt. Nur das Schauspielhaus Wien hat ganz anders reagiert: "Hallo, schön dass ihr da seid! Wir helfen euch mit den Rollstühlen und nach der Show dürft ihr auf die Bühne und das Bühnenbild betasten." (Anm. d. Red.: Inzwischen hat sich etwas getan, "theater4all" ist ein Projekt, bei dem erfahrene Kommentator: innen über Kopfhörer Audiobeschreibungen liefern und wo nun auch Josefstadt, Burgtheater und Volkstheater mitziehen. https://theater4all.at)

Bei meinem neuen Projekt sind Betreuungspersonen dabei, weil die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen so verschieden und vielfältig sind. Aus der Zeit, als ich an Schulen gearbeitet habe, weiß ich, dass in einer Gruppe nicht nur eine bestimmte Form der Einschränkung allein vorkommt, sondern alle möglichen Behinderungen nebeneinander vorkommen können und es ist eine Herausforderung in diesem Bereich mit allen eine gemeinsame "Sprache" zu finden. Wenn ich aber vergleiche, wird erkennbar, dass ich das in allen anderen Bereichen genauso verhält: ich muss mit jedem Menschen, mit dem ich arbeite, eine individuelle Sprache entwickeln, sodass man theatral dorthin kommt, wo beide hinwollen. Ich glaube manchmal fürchtet man sich vor dieser Auseinandersetzung, weil es nicht so vertraut ist. Das merke ich selbst auch. In einem Workshop, den ich geleitet habe und den ich stark auf Körpertraining ausgerichtet hatte, kam plötzlich eine Person mit Rollstuhl, was mir im Vorfeld nicht mitgeteilt wurde. Im Moment war ich schon erschrocken und fragte mich, was ich jetzt machen soll. Ich befürchtete, nicht alle unter einen Hut zu bekommen, da ein halber Tag mit Tanz geplant war. Im Gespräch haben wir herausgefunden, dass der Teilnehmer durchaus eine Vorstellung hatte, wie er mitmachen kann und wie man mit dem Rollstuhl tanzt. Es wurde ein toller Bewegungsworkshop mit einem Rollstuhlfahrer, der mit den Armen und Händen getanzt hat und gemäß seiner Möglichkeiten gemacht hat, wozu er Lust hatte – ein Erlebnis, das mich sehr berührt hat und wo ich meine eigene Unsicherheit gespürt habe. Der Konnex zur Kunst ist, dass eigentlich "alles möglich ist", da kann ein Rollstuhl fliegen oder zum Mond fahren.

SSA: Wen oder was wolltest du immer schon darstellen. Gibt es so etwas wie eine Lieblingsrolle überhaupt für dich? Oder anders: Gibt es eine Sehnsucht für einen bestimmten darstellerischen Bereich? Wo zieht es dich hin?

AM: Ich kann nicht sagen, dass es eine Lieblingsrolle gibt. Immer wieder habe ich historische Persönlichkeiten dargestellt, wie Ingeborg Bachmann oder Ruth Klüger, oder Conny Palmen; Johanna Dohnal durfte ich auch einmal spielen. Diese Auseinandersetzung fand ich jedes Mal sehr spannend und eine große Ehre so starke Frauen darzustellen. Was Rollen aus der Theaterliteratur betrifft, kann ich nur sagen, was ich nicht mag: Boulevardtheater macht sicher auch Spaß, hat aber zu wenig Tiefgang für mich. Schwer zu sagen, an den meisten Figuren ist etwas Spannendes, aber wenn es zu platt wird, lehne ich es ab.

SSA: Worauf möchtest du in deinem Workshop in Pöllau den Fokus lenken? Was möchtest du für dich und deine Mitspieler: innen erreichen?

AM: Ich setze immer dort an, wo die Spieler: innen gerade stehen, ob das Anfänger: innen sind oder Fortgeschrittene und ich zeige ihnen vielfältige Methoden, wie man mit dem Instrument, dem eigenen Körper am besten umgeht, sich selbst erst einmal gut kennenlernt und es so einzusetzen, wie es für die Person individuell am stärksten ist. Es geht auch viel um Selbstwahrnehmung und Wirkung. Wie kann ich meine Präsenz stärken und wie kann ich meinen Mut dazu stärken? Das ist auch ein wichtiges Thema im Theater. Wie kann ich mutig auf die Bühne gehen, ohne mich zu fürchten? Der Weg ist der, die Spieler: innen liebevoll an der Hand zu nehmen und Methoden aufzuzeigen, wie es auf der Bühne Spaß macht und man das Lampenfieber eigentlich vergisst, sodass das kein Thema mehr ist und die Lust überwiegt. Ein wichtiger Faktor ist auch der Umgang mit dem Scheitern: wie kann man in Situationen, wo man irritiert ist oder etwas nicht funktioniert, trotzdem liebevoll und achtsam mit sich umgehen? Noch ein wichtiger Punkt in allen ist das Geschichten-erzählen: wie kann ich auf der Bühne eine Geschichte erzählen und woher kommen denn die Geschichten und unsere Kreativität? Ein Teil meiner Arbeit nennt sich "Die Magie des Moments", weil es wirklich so ist, dass viele Geschichten ohnehin schon da sind, und wir brauchen sie nur aus unserem Inneren zu schöpfen oder in unserer Umgebung zu pflücken und erzählen.

SSA: Liebe Alice, ich danke dir sehr für deine Bereitschaft uns deine Zeit und die wertvollen Einblicke zu schenken. Wir freuen uns schon auf dich deinen Workshop vom 15. – 17. Juli in Pöllau!

Workshop Theater Delux von 15. bis 17. Juli

Fotos: K.Wocelka, Alice Mortsch, SSA