Heuer ist es so weit: wir dürfen erstmals Visible Mending mit Anne Neuhauser innerhalb des farben.formen.festivals im schönen Pöllau anbieten!
SSA: Liebe Anne Neuhauser, vom 27. Bis 29. Juni 2025 wirst du den dreitägigen Workshop "Textile Erinnerungen – Visible Mending" nach deinem Konzept leiten.
Was macht Visible Mending, ("sichtbares Reparieren") für dich so interessant? Wann hast du diese Kunst für dich entdeckt?
Anne Neuhauser: "Eigentlich beschäftige ich mich mit textilen Techniken seit ich denken kann. Ich habe schon mit vier von meiner Oma stricken gelernt und war immer die beste in Handarbeiten, das Einzige, was mich damals in der Schule interessiert hat. Vor ca.10 Jahren habe ich die Technik Sashiko und Boro für mich entdeckt, und habe viele Impulse in Japan gefunden. Daraus habe ich dann ein Nachhaltigkeitskonzept entwickelt. Zu Beginn habe ich Jeans mit Sashiko-Stichen bestickt und repariert, ein bisschen später habe ich dann auch Visible Mending-Techniken verwendet, die in England und Skandinavien gerade sehr hip sind. Damit wird man viel flexibler und kann viele verschiedene Stoffarten reparieren und die Techniken auch gut kombinieren. Interessant ist das sichtbare Reparieren in vielerlei Hinsicht.
Es handelt sich um uralte Handwerkstechnik (Japan, Weltweit), die ich neu interpretiere und zeitgemäß anpasse. Dadurch kann ich eine Haltung zeigen: Schaut, ich beuge mich nicht dem vorherrschenden Konsumzwang! Ich behandle meine Kleidung mit Achtsamkeit und Wertschätzung! Denn wenn ich etwas besticke und repariere, dann werfe ich es nicht mehr weg.
Hier kommen die japanischen Begriffe Mottainai und Wabi Sabi ins Spiel – Das eine drückt das Bedauern über die Verschwendung einer Sache aus, deren tatsächlicher Wert nicht ausreichend genutzt wird. Das andere beschreibt eine neue Ästhetik des Einfachen und Natürlichen. Daher soll die Reparatur sichtbar bleiben, weil sie zum Stil der Kleidung beiträgt. Fehler von Objekten werden geschätzt und betonen die Philosophie des Unvollkommen, aber auch der Individualität. Das wiederum ist eine wohltuende Gegenbewegung zum heute vorherrschenden Perfektionismus.
SSA: Worin liegt die besondere Herausforderung dabei? Ich frage dich das, weil mit textilen Techniken zu arbeiten nicht selten mit viel Zeitaufwand verbunden ist. Oder anders: ist das nicht mühsam, ein Kleidungsstück in Handarbeit zu gestalten?
Anne Neuhauser: "Ja, der Zeitaufwand ist natürlich alles andere als ökonomisch. Aber gerade das ist eben das Anziehende. In der heutigen Zeit, wo niemand mehr Zeit für etwas hat, sehe ich es als Luxus sich so lange Zeit für etwas zu nehmen, was im Grunde nicht nötig ist. Der Luxus sich intensiv mit etwas zu beschäftigen, das keinen speziellen Sinn hat, und dann doch etwas Besonderes dabei herauskommt. Das ist vielleicht genau der Punkt, der das Kunsthandwerk zur Kunst macht.
Es hat auch etwas sehr Meditatives und Entspannendes. Durch die repetitive Arbeit kann unser Hirn sehr gut entspannen. Das fördert mentales Wohlbefinden. Da kommen auch noch drei weitere wichtige Faktoren für unsere psychische Gesundheit dazu: Kompetenz (ich kann etwas), Autonomie (ich mache das, was ich gerne tue) und soziale Eingebundenheit (regt zu Gesprächen an, man hat das Gefühl etwas gegen den Massenkonsum zu tun), die alle drei das Gefühl der Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit fördern. Als Psychologin finde ich diesen Aspekt sehr wichtig.
SSA: Textile Kunst ist schon seit längerem international wieder im Trend und kann äußerst beindrucken, wie die Biennale Venezia 2024 wieder einmal gezeigt hat. (A Textile Perspective / Zen Stitching/ The Art of Mindful Mending) Was steckt, deiner Meinung nach, dahinter?
Anne Neuhauser: "Textile Kunst hat sehr viel Potential und eine lange Tradition, immer an der Schwelle zwischen Kunsthandwerk und Kunst - nicht nur in Europa. Eine Ausdrucksform der Unterprivilegierten. Ein wichtiger Punkt ist, glaube ich, auch die weibliche Konnotation. In früheren Zeiten war es ein Medium, das für Frauen akzeptabel war. Heute wird gerade das zu einer spannenden Uminterpretation (Katharina Cibulka: mit ihrem "Solange…"-Projekt, oder Annette Messager, die die wüstesten frauenfeindlichen Redewendungen stickt und einrahmt). Aber auch für Männer, die textile Kunst machen, ist es interessant sich in einer sognannten weiblichen Kunstform auszudrücken: man denke an Scott Walker (New York).
So kann Textile Kunst auch sehr politisch werden: Das haben wir in Venedig, aber auch schon auf der Dokumenta 15 gesehen.
Auf der Website des Textilkünstlers Dieter Filler kann man folgendes Zitat lesen: "textile Kunst ist das Verlangen und Vergnügen die unterschiedlichsten Materialien so umzusetzen und zu be- und verarbeiten, dass sie in einer neuen Ästhetik erfreuen." …ich glaube das trifft meinen Zugang zu Textilkunst am besten.
SSA: Wie kann es mir als Teilnehmerin am Workshop gelingen, dass mein Visible Mending Werkstück zum Kunstwerk wird?
Anne Neuhauser: "Die Assoziationen, Vorgedanken, ungewöhnliche Materialwahl, die Gesamtheit der Gestaltung machen das Werkstück zum Kunstwerk. In der intensiven Auseinandersetzung mit Material, aber auch der Geschichte des Kleidungsstücks. Mit jedem Kleidungsstück trägt man ja auch einen Teil seiner eigenen Geschichte, und wenn man Secondhand-Kleidung trägt auch die Geschichte des Vorbesitzers/ Besitzerin. Ganz anders als beim Kunststopfen erzielt man mit dem sichtbaren Reparieren eine individuelle Gestaltung des Stückes, das dadurch eine Aufwertung erfährt und als Ergebnis der eigenen Kreativität und Arbeit auch viel ausdrückt.
SSA: Liebe Anne, gibt es etwas, das dir besonders am Herzen liegt, wenn du an deinen Workshop in Pöllau denkst?
Anne Neuhauser: "Am allerwichtigsten ist mir, dass ich Freude und Leichtigkeit vermitteln möchte. Im Umgang mit Textilien stößt man auch auf alle sehr nachteiligen Aspekte von Mode – wie Umweltverschmutzung, miserable Arbeitsbedingungen. Dennoch möchte ich die Sache lieber mit Freude und Humor angehen. Weil ich glaube, damit viel mehr erreichen zu können als mit dem erhobenen Zeigefinger.
"Das kann ich auch!" Eine Reaktion, die vielleicht mancher zeitgenössische Künstler als Geringschätzung auffassen könnte, ist mir sehr willkommen, Partizipation als Nachhaltigkeitsprinzip…. - mich würde es sehr freuen, wenn nach dem Workshop, die Teilnehmer stolz ihre Werke tragen und damit ihre Haltung zeigen und auch wieder andere anregen, dasselbe zu tun.
Die Aufhebung gesellschaftlicher Enge: was ist weiblich/ was ist männlich? Alle Menschen sollten von den Vorteilen handwerklicher Tätigkeit profitieren. Visible Mending ist da ideal, weil man mit wenig Werkzeug auskommt und das Material fast geschenkt ist.
Gestaltung individueller und einzigartiger Stücke: Jeder soll sich durch die Vielfalt der gestalterischen Möglichkeiten ausdrücken können. Natürlich muss man erst die Grundlagen lernen, und das erfordert – wie jede neue Fähigkeit, die man erlernen will, Geduld. Es soll darum gehen neue Techniken zu lernen und dann in Zukunft freudig, frech und offen damit zu experimentieren."
Herzlichen Dank, Anne Neuhauser, für das Interview! Wir freuen uns schon auf den Workshop mit dir!